Unausgeschlafen, gut aussehend, Kaugummi kauend


Manchmal frage ich mich schon, wie oft ich in den letzten Wochen an einer der üblichen Haltestellen stand und dabei gedankenverloren und – zumindest morgens – noch nicht aufgewacht der Musik aus meinem iPod lauschend Menschen vollkommen übersehen habe, die ich kenne.

Erging mir so ähnlich auf jeden Fall vergangenen Dienstag, als ich auf dem Weg zum Absitzen der Stunden meines Abendstudiums an der Bushaltestelle ankam (es regnete, deshalb wollte ich nicht laufen), den Blick über die Wartenden so schweifen lasse und dabei für ein paar Millisekunden den Blick eines Typen kreuzte, der mich seinerseits etwas irritiert betrachtete. Dennoch nichts weiter denkend stellte ich mich brav mit zu den anderen Menschen, blickte noch einmal zu dem komischen Typ, der mich immer noch fragend ansah und merkte: Hups, den kennst du, das ist dein Kommilitone seit über eineinhalb Jahren. Der heute Geburtstag hat. Und der jetzt, da ich ihn bemerkt habe, meinen überraschten Blick zur Linderung meiner eigenen Peinlichkeit so erwidert, als hätte er mich auch eben erst entdeckt.

Ich war noch nie gut darin, Menschen inmitten einer größeren Ansammlung (Anzahl Personen > 1) zu sehen. Auch so ein Grund, warum ich mit 27 Jahren zum ersten Mal mit Musik auf den Ohren durch die Straßen laufe. Früher hatte ich immer die berechtigte Angst, jemanden zu übersehen, der dann hinter mir her ruft.

Sehr viel öfter frage ich mich in letzter Zeit allerdings, wie viele dieser unzähligen Personen, die ich so sehe, während ich an einer Haltestelle stehe, kennen müsste. Hinter jedem dieser Gesichter verbirgt sich doch bestimmt eine interessante Geschichte. Der eine ältere, untersetzte Mann in einem zwei Nummern zu großen Anzug und einer Plastiktüte in der Hand, der offensichtlich sehr nervös einem wichtigen Termin entgegenfiebert, den er so nicht jeden Tag hat. Die junge Schülerin, die um 7 Uhr 49 nervös und hastig in den Zug steigt und der man nicht nur aufgrund dessen ansieht, dass sie wohl verschlafen hat. Der Yuppie mit gestriegelter Gelfrisur, McKinsey-Habitus und Coffee-to-go-Becher in der Hand, der sich gut fühlt, wenn ihn andere ehrfurchtsvoll ansehen – man sieht ihm ja nicht an, wie zermürbend es ist, 12-Stunden-Tage in einem so harten Business überstehen zu müssen ohne hinten runter zu fallen. Die junge Dame mit dem viel zu tiefen Ausschnitt, die es für ihr Selbstwertgefühl braucht, dass Männer ihr »in die Augen« sehen. Das andere Mädchen daneben, das genauso gut wie ich weiß, dass wir im selben Gebäude arbeiten und jeden Tag den selben Arbeitsweg bestreiten, es aber trotzdem wie ich bei einem flüchtigen Blick belässt. Der Sportler, der merkt, dass es für T-Shirt und kurze Hosen doch noch zu kühl ist und sich die Jacke wieder überstreift. Die hastig umherblickende junge Frau im Business-Dress und Bewerbungsmappe unter dem Arm, die auf den Fahrplan sieht, wann ihr Zug zu der Firma fährt, die sie hoffentlich endlich anstellt. Und der Typ, gut aussehend, unausgeschlafen, Kaugummi kauend und Musik hörend, der diese ganzen Menschen aufmerksam betrachtet und nach zwei Wochen Bahnfahren genau darüber einen Weblogeintrag schreibt.